Die andauernden Proteste werfen viele Fragen auf: Was steckt hinter all den Protesten, die derzeit in Thailand stattfinden? Was fordern die Demonstranten? Wer sind die Protestierenden?
Seit August hat sich eine politische Bewegung gebildet, die von meist jungen Thais getragen wird. Sie unterscheidet sich erheblich von allen anderen bekannten Protestbewegungen in der Vergangenheit. Die Menschen, die an den Kundgebungen teilnehmen, stimmen nicht wirklich mit den Zielen der früheren politischen Bewegungen überein noch identifizieren sie sich mit ihnen. Es handelt sich weder um Rot- noch um Gelbhemden, vielmehr ist es eine völlig neue Bewegung, die sich das Ziel gesetzt hat, wichtige Veränderungen im politischen System Thailands und in der Rolle und den Befugnissen des Staatsoberhauptes anzustreben.
Die derzeitige Protestbewegung zeichnet sich insbesondere durch Selbstdisziplin, Aufrufe zu friedlichen Versammlungen und ihre Fähigkeit zur Organisation großer, kreativer Proteste aus. Es gab einige Auseinandersetzungen mit der Polizei und Personen, die Verletzungen davontrugen. Aber im Vergleich zu früheren thailändischen Protesten zeichnen die Kundgebungen eher durch Zurückhaltung auf beiden Seiten aus.
Was fordern die Protestler?
In einem Zehn-Punkte-Manifest, das am 10. August zum ersten Mal verlesen wurde, forderten sie den Rücktritt des thailändischen Premierministers Prayut Chan-o-cha, die Auflösung des thailändischen Parlaments, eine neue Verfassung, die die Charta Thailands von 2017 ersetzen soll, sowie ein Ende der Schikane durch die Polizei und die Beschneidung der Macht des thailändischen Monarchen. Sie behaupten, die Parlamentswahlen 2019 seien nicht korrekt abgelaufen. Damit sei die Wahl des thailändischen Premierministers durch das thailändische Parlament ungültig.
Der thailändische Premierminister kandidierte nie für das Parlament, wurde nicht von den thailändischen Wählern gewählt, aber in einer gemeinsamen Sitzung des Parlaments zum Premierminister ernannt. Das gesamte Oberhaus des Parlaments setzt sich aus handverlesenen Senatoren zusammen, die von der letzten Militärjunta, die Thailand von 2014 bis 2019 regierte, ausgewählt wurden.
Sind die Forderungen realistisch?
Es ist unwahrscheinlich, dass die gegenwärtige Regierung irgendeine der Forderungen erfüllen wird, da dies zu ihrem Machtverlust führen würde. Dies gilt insbesondere für die Senatoren, die im Falle einer Verfassungsänderung für ihre Ämter kandidieren und von den thailändischen Wählern bestätigt werden müssten.
Aber die gegenwärtige Regierung machte kleine Zugeständnisse und versuchte, einige Änderungen der aktuellen thailändischen Charta, die im Jahr 2017 in Kraft getreten ist, durchzusetzen. Damit sollte den Protestierenden gezeigt werden, dass man auf sie zugeht. Doch genauer betrachtet sind die Zugeständnisse minimal. Viele Kommentatoren sind der Ansicht, dass die beabsichtigten Änderungen lediglich eine Hinhaltetaktik darstellen, um einer umfassenden Verfassungsänderung aus den Weg zu gehen.
Wer sind die Demonstranten?
Meist handelt es sich um Studenten mit einem Durchschnittsalter von weit unter 25 Jahren. Die beiden größten Gruppen nennen sich Free Youth und Ratsadon, wobei es noch zahlreiche Untergruppen der beiden Bewegungen gibt. Eine davon nennt sich Bad Students. Sie setzt sich für sinnvolle Veränderungen im thailändischen Bildungswesen ein. Weitere Gruppen vertreten LGBT- und Arbeitnehmer-Interessen. Alle Gruppen eint, dass sie sich im wesentlichen in ihren zentralen Forderungen einig sind.
Der 3-Finger-Gruß, der inzwischen auf jeder Kundgebung gezeigt wird, wurde von der Bad Students Bewegung während der morgendlichen Versammlung, des Hissens der Fahne und des Singens der Nationalhymne eingeführt. Sie fordern Änderungen des Bildungssystems, das im wesentlichen aus auswendig gelernten Unterrichtsmaterial besteht, eine Lockerung der strengen Frisur- und Kleiderordnung sowie weniger Drangsalierung von Lehrern und Beamten der Bildungsbehörden.
Als eine neue Generation von Thais haben sie auch wenig Angst davor, so genannte unbequeme Themen anzusprechen. Frühere Generationen taten dies nicht. Es handelt sich um die erste Protestbewegung, die öffentlich das Unaussprechliche ausspricht und die Rolle des thailändischen Monarchen kritisiert. Dieser besondere Aspekt ihrer Kampagne spaltet das Land und hat wiederum dazu geführt, dass sich eine Reihe von royalistischen Bewegungen gebildet haben, die sich gegen das Ansinnen der regierungsfeindlichen Protestgruppen richten. Die Royalisten sind meist in gelb gekleidet, der Farbe, die die thailändische Monarchie repräsentiert.
Was sind ihre Taktiken?
Bis jetzt sind die Demonstranten während den Kundgebungen weitgehend friedlich geblieben, abgesehen von einigen kleineren Auseinandersetzungen mit der Polizei. Bei zwei Veranstaltungen kam es zum gewaltsamen Vorgehen seitens der Polizei, wobei Hochleistungs-Wasserwerfer und Tränengas eingesetzt wurden. Der größte Vorteil der jüngsten Protestbewegung liegt in ihrer Jugend, ihren Kenntnisse und dem Umgang mit sozialen Medien, ihren konsequenten und unnachgiebigen Forderungen und in ihrer Entschlossenheit, große und anhaltende Proteste in der Stadt und in anderen thailändischen Provinzen zu organisieren.
In der letzten Runde der Katz-und-Maus-Spiele mit der Polizei haben die Demonstranten gezeigt, dass sie den Beamten meist einen Schritt voraus sind und durch den Einsatz verschlüsselter Nachrichtensysteme in wenigen Augenblicken ihre Taktik und ihren Standort wechseln können. Außerdem ist die Schar der Anhänger groß und die Organisatoren haben keine Probleme, über 20.000 Teilnehmer für eine Demonstration zu mobilisieren.
Wie hat die Regierung Prayut reagiert?
Der thailändische Premierminister hatte in den vergangenen Monaten der Proteste deutlich gemacht, dass er Gewalt um jeden Preis vermeiden wolle. Doch als am 14. Oktober eine königliche Autokolonne von einer Schar von Demonstranten bedrängt wurde, änderte sich die Situation recht schnell, und für die nächsten 7 Tage wurde in Bangkok der Ausnahmezustand verhängt.
Über das wie oder warum es der Autokolonne erlaubt wurde, direkt in den Weg einer angekündigten Protestversammlung einzufahren, kann diskutiert werden. Der Premierminister, der der Monarchie nahe steht, sah das Aufeinandertreffen zwischen den Demonstranten und der königlichen Autokolonne als eine direkte Konfrontation an.
Die Regierung verhängte den Ausnahmezustand, der Versammlungen von mehr als 5 Personen überall in Bangkok verbot. Sie schränkte auch die Veröffentlichung von Mitteilungen in den Social Media, Nachrichten ein und untersagte Online-Informationen, die der nationalen Sicherheit schaden könnten. Der Ausnahmezustand erlaubte der Polizei, jeden, der mit den Protesten in Verbindung steht, festzunehmen und jeden Bereich zu sperren, sofern sie es für notwendig erachtet.
Doch die Demonstranten ignorierten den Ausnahmezustand weitgehend, ja sie erhöhten sogar noch die Häufigkeit ihrer Proteste.
Haben die Proteste etwas mit der Covid-19-Pandemie zu tun?
Die Antwort ist nein. Die von den Demonstranten geforderten Veränderungen sind nicht neu. Sie bestehen bereits seit vielen Jahren, lange vor dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie.
Welche Reformen der thailändischen Monarchie fordern die Demonstranten?
Die Demonstranten fordern die erweiterten konstitutionellen Befugnisse des Monarchen, die 2017 nach der Krönung von König Maha Vachiralongkorn eingeführt wurden, rückgängig zu machen.
Die Aktivisten führen an, dass die neu übertragenen Befugnisse ein Rückschritt für den Übergang des Landes von Siam nach Thailand im Jahr 1932 darstellen, als die absoluten Befugnisse des Monarchen durch eine neue konstitutionelle Monarchie, die die repräsentative Demokratie festschreibt, aufgehoben wurden. Das Land ist am 23. Juni 1939 in Thailand umbenannt worden. Die Demonstranten sind der Ansicht, die Monarchie stehe der thailändischen Armee und Regierung nun zu nahe und argumentieren, dass diese Beziehung die thailändische Demokratie untergräbt.
Die Demonstranten fordern, dass der König die zusätzliche Kontrolle, die er über das Palastvermögen, das auf rund 30 Milliarden Dollar geschätzt wird, aufgibt. Dem König wurde auch die direkte Kontrolle über drei Bataillone der thailändischen Armee übertragen.
Die Demonstranten führen vor allem an, dass der Monarch die Wahl von Premier Prayut, die Partei Palang Pracharat, und die derzeitige Koalition nach den Wahlen vom 24. März 2019 unterstützt hat. Oppositionelle reden von Wahlbetrug, weil die Stimmen von Oppositionsabgeordneten annulliert und Parteien, die als Anti-Establishment Bewegungen galten, aufgelöst wurden.
Schließlich bemängeln die Demonstranten, dass der thailändische König den größten Teil des Jahres in Bayern verbringt, und verweisen auf seinen angeblich extravaganten Lebensstil und seine angebliche Einmischung in thailändische Angelegenheiten aus der Ferne.
Wie lauten die Gesetze der Lèse Majesté?
Mit den Lèse Majesté-Gesetzen sollen Kritik oder Beleidigungen gegenüber dem thailändischen Monarchen oder der thailändischen Königsfamilie verhindert werden. Ein Verstoß gegen die Gesetze kann mit einer Gefängnisstrafe von bis zu 15 Jahren geahndet werden. Die Monarchie ist durch Abschnitt 112 des thailändischen Strafgesetzbuches geschützt.
Hat der Palast einen Kommentar zur aktuellen Situation abgegeben?
In einem seltenen Moment, und sicherlich das erste Mal, dass sich König Vajiralongkorn zu den gegenwärtigen politischen Unruhen äußerte, bezeichnete der Monarch Thailand als ein Land der Kompromisse.
Bei einem Treffen mit royalistischen Anhängern am 1. November 2020 antwortete der Monarch auf die Frage eines Reporters des britischen Rundfunksenders Channel 4, was er zu den regierungsfeindlichen Demonstranten sagen würde, zunächst mit: „Kein Kommentar“, und fügte dann hinzu: „Wir lieben sie alle gleich. Wir lieben sie alle gleich.“
Ansonsten liegen vom Palast oder dem Monarchen keine offiziellen Verlautbarungen zu den spezifischen Anliegen oder Forderungen der Protestbewegung vor.
Wie werden die Lèse-Majesté-Gesetze in der Praxis angewendet?
Im Juni kündigte Premierminister Prayut an, dass das Lèse-Majesté-Gesetz auf ausdrücklichen Wunsch des Monarchen nicht mehr angewendet werden soll. Dazu gab es jedoch nie eine offizielle Stellungnahme aus dem Palast.
Die Polizei hat jedoch nach wie vor thailändische Bürger verhaftet und angeklagt, die sich unter Anwendung des Gesetzes über Computerkriminalität und der Gesetze über Aufruhr in sozialen Medien gegen die Monarchie oder gegen den König ausgesprochen haben. Seit Oktober wurden über hundert Aktivisten verhaftet und angeklagt, hauptsächlich wegen Volksverhetzung.
Schreibe einen Kommentar
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.